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Komm mit mir nach Santiago

Klappentext 

von Sandra Kerl

Nachdem die Autorin von ihrem Körper die rote Karte gezeigt bekommen hat, macht sie endlich Nägel mit Köpfen und sich auf den Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich nach Santiago de Compostela. Zurück bleiben die jahrelangen Bedenken und Ausreden, dafür dürfen Mut, der unbedingte Wille, es zu schaffen, und eine Handvoll bunt bemalter Pilgersteine mit ins Gepäck. Mit viel Humor und Selbstironie erzählt Sandra Kerl von ihren zum Teil skurrilen Erlebnissen, den körperlichen Herausforderungen und vielen bewegenden Begegnungen auf den nicht immer einfachen 800 Kilometern des Camino Francés.

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Dieser ungewöhnliche Reisebericht ist ein bunter Blumenstrauß an Emotionen und erweckt den Wunsch, sofort den eigenen Rucksack für das größte Abenteuer mit sich selbst zu packen.

Eine Anleitung zum Nachmachen und Mutigsein.

 Leseprobe:


1 – Eintauchen in den Pilgerkosmos

Mit einem ordentlichen Schuss Aufregung in meinem Blutkreislauf schäle ich mich aus dem vollen Bus heraus, der als Ersatz für die gesperrte Bahnlinie eingesetzt worden ist. Die Abendsonne scheint mir noch warm ins Ge sicht, die Luft ist klar. Einatmen. Ausatmen.

Da bin ich also, am Bahnhof von Saint-Jean-Pied de-Port, dem pulsierenden Ort im fran zösischen Baskenland vor schönster Bergkulisse.

Als Startpunkt für meine persönliche Wandermission steht das Pyrenäenstädtchen nicht nur bei mir auf Platz eins, sondern erfreut sich auf den vordersten Rängen tausender Bucketlisten größter Beliebtheit. Hier beginnt für viele moderne Suchende die herbeigesehnte Herausforderung, auf dem Camino Francés nach Santiago de Compostela zu laufen, eine Strecke, die so lang ist wie eine Wanderung von Hamburg nach München über Hannover, Leipzig und Nürnberg. Nur topografisch deutlich herausfordernder.

 

Mir jedenfalls war bis vor Kurzem überhaupt nicht klar gewesen, wie bergig das spanische Festland tatsächlich ist. Ich staune nicht schlecht, als ich dem Pulk hinterher in Richtung Zentrum trabe. Die Pilgersaison scheint bereits richtig in Gang gekommen zu sein. Viele eindeutig als Pilger identifizierbare Menschen bevölkern schon die Straßen, sitzen in Cafés, erkunden die verwinkelten Gassen der gut erhaltenen Altstadt. Sie haben offensichtlich, genau wie ich, beschlossen, dass hier und jetzt der richtige Tag und Ort für den Beginn ihrer Unternehmung sein soll. Obwohl es ja erst Ende April ist.

Vor zwei Wochen hatte ich auf Facebook noch mitverfolgt, wie nach einem plötzlichen Schneefall zwei Pilger auf der steilen  Napoléon-Route, bereits auf spanischer Seite, nur von einem Rettungsteam aus ihrer misslichen Lage am Berg befreit werden konnten. Vor vier Wochen war noch kaum jemand unterwegs und viele Herbergen waren noch geschlossen.

Aber, wenn ich geglaubt habe, dass die Ruhe noch eine Weile anhalten und der Pilgerweg erst langsam aus seinem pandemiebedingten zweijährigen Dornröschenschlaf erwachen würde, werde ich jetzt eines Besseren belehrt. Dabei habe ich doch die Einzige, die auserwählte Pilgerprinzessin mit elegantem Glasschuh sein wollen, die ihn unter ihren zarten Schritten wieder wachküsst.

Auf dem Weg zu meiner im Voraus gebuchten Unterkunft schlendere ich neugierig, den Blick auf die historischen Gebäude gerichtet, die mittelalterlich anmutende Rue de la Citadelle entlang. Ein loses Stück Kopfsteinpflaster lädt mich zu einem ersten Gleichgewichtstest mit Rucksack ein. Ich meistere ihn.

Die meisten Pilgerherbergen haben bereits ein Schild aufgehängt oder -gestellt: »Complet«. Belegt. So langsam dämmert es »Prinzessin küsst-den-Camino-wach«: Das Jahr 2022 wird ein Millennium-Pilgerjahr mit Rekordzahlen werden. Nachdem der Jakobsweg die voraus gegangenen zwei Jahre coronabedingt kaum frequentiert war und daher das heilige Jahr 2021 für Santiago besucherarm vergangen war, hatte man beeindruckend lässig entschieden, die heilige Pforte der Kathedrale außer planmäßig zu öffnen, um damit die Heiligkeit um 365 Tage zu verlängern – für viele religiös motivierte Menschen ein wichtiger Grund, in diesem Jahr aufzubrechen. Zusätzlich stehen auch viele weitere pandemieverhinderte Pilger der letzten zwei Jahre in den Startlöchern. So auch ich.

Obwohl ich nie in Nepal gewesen bin, fühle ich mich spontan zu einem Vergleich mit der 6 ebenfalls im April beginnenden Mount- Everest-Basislager-Saison genötigt, wo Bergsteiger aus aller Welt auf ein kurzes Wetterfenster warten, um den Berg dann zu Hunderten hintereinander im Gänsemarsch zu erklimmen. Die Menge der Camino-Stürmer dürfte ähnlich hoch sein, günstiger sieht allerdings für uns das Zeitfenster aus, denn die diesjährige coronafreie Zeit zum Pilgern durch Spanien wird doch wesentlich länger anhalten als ein Wolkenloch am Himalaya.

Ich bin gespannt, wie sich der Pilgertreck gen Westen beim Aufstieg schlagen wird – besonders aber auf meine eigene Performance. Ich werde bald herausfinden, ob es wirklich eine gute Idee gewesen ist, auf Flaschensauerstoff zu verzichten.

In meiner Pension werde ich mit offenen Armen und großer Herzlichkeit empfangen. Die Besitzerin erklärt mir nebenbei, dass die Unterkunft bis Ende November komplett ausgebucht ist. Habe ich das richtig verstanden? »Ende November?« Sie nickt bekräftigend. Oha!

Das Haus ist toll, mein Privatzimmer schnuckelig. Ein absolut wichtiges Detail, das zusätzliche Extrapunkte gibt: Gratistee in unbegrenzten Mengen. Ich bin ein Junkie, süchtig nach schwarzem Tee. Ohne meinen Morgentee heißt meine Hauptcharakter- eigenschaft müde.

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Nachdem ich mich sortiert habe, mache ich mich auf, um in mein neues Pilgerleben einzutauchen – oder zumindest ein wenig darin herumzuplantschen. Ich gehe kaum dreihundert Meter, da treffe ich schon meine erste Bahnhofsbekanntschaft aus Bayonne wieder, Christian aus Koblenz. Zusammen hätten wir es fast geschafft, den Zug nach Saint-Jean zu verpassen, indem wir den vonseiten der Bahngesellschaft sehr geheim gehaltenen Zugang zum richtigen Gleis nicht gefunden haben. Wir haben an falscher Stelle über eine Stunde erwartungsvoll herumgesessen und uns gewundert, wohin denn all die anderen Rucksackträger aus der Bahnhofshalle wohl verschwunden sind. Eine Szene reif für einen Film.

Christian, ein kräftiger, freundlicher Kerl in den Vierzigern, ist offensichtlich genauso auf der Suche nach etwas Essbarem wie ich und wir landen kurzerhand im nächsten Restaurant, in dem sich bereits andere Pilgergruppen niedergelassen haben. Am Nebentisch prosten sie sich schon überaus freudig mit mindestens der zweiten Runde Longdrinks zu.

Ich beginne, die Speisekarte zu studieren. Zu meiner Überraschung ist sie auf Englisch, was die Lesbarkeit erleichtert.

Das letzte Mal, dass ich eine Speisekarte in der Hand hatte, ist etwas mehr als zwei Wochen her. Damals hatte ich in einem schicken Restaurant in meiner bayrischen Wahlheimat gesessen und im kleinen Kreis meinen 50. Geburtstag gefeiert. Ursprünglich wollte ich zusammen mit einer Schulfreundin, die nur zwei Tage älter ist als ich, in altvertrauten rheinischen Gefilden eine »Jahrhundertparty« schmeißen – im ersten Jahr nach Corona, wo das wieder ohne lästige Gästebegrenzungen möglich gewesen wäre. Ich hatte mir das schon ein Jahr im Voraus toll ausgemalt. Mit vielen Leuten, lautem Gitarrensound, wildem Tanz und mit allem Schnick und Schnack. Zu meiner eigenen Überraschung stellte ich nach einem halben Jahr grober Vorplanung kurz vor Weihnachten fest, dass ich so eine große Feier, sechshundert Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt, eigentlich gar nicht mehr wollte. Zu viel Stress, nur eine knappe Woche vor der Abreise. Mein Fokus hatte sich bereits Richtung Saint Jean verschoben, statt auf der aufwendigen Organisation unserer Geburtstagsfeier zu liegen.

Christian sagt: »Ich nehme das Steak mit Pommes. Und du?«

»Ähm. Die Spaghetti Carbonara.«

Er blickt auf die Straße, an der wir sitzen. Es herrscht ganz schön viel Verkehr. »Jetzt sind wir also endlich hier.«

Genau das habe ich auch gerade gedacht. Und heute nicht zum ersten Mal. Ich denke es eigentlich ständig, seit ich aus dem Bus gestiegen bin. »Hast du dich auch länger auf diesen Tag gefreut?«, frage ich ihn.

»Ziemlich lange.«

Jeder ist in seinen Gedanken versunken, dann will er wissen: »Und wie fühlst du dich? Hast du schon so ein Pilgerfeeling wie die dort?« Er grinst und deutet mit dem Kinn auf den Nachbartisch mit den Feiernden.

»Pilgerfeeling?« Ich muss kurz überlegen.

Er nickt.

»Die Wahrheit?«

Er nickt wieder. 

»Nein. Ich hatte es mir total anders vorgestellt. Viel …« Ich suche nach den richtigen Worten.

»Spektakulärer?«

»Nein, aber irgendwie feierlicher. Ich dachte, ich würde mega-aufgeregt sein. Kribbelig. Keine Ahnung.« Das ist immer noch nicht genau das, was ich ausdrücken wollte. »Aber da ist nichts.«

Ich zucke mit den Schultern.

Er nickt weiter. »Ich dachte, es sei leerer hier.«

Ich muss lachen. »Ich auch.« Zwei Motorräder knattern vorbei. Ich schreie: »Und leiser. Du?«

»Auch kein Gefühl. Nichts irgendwie Erhebendes. Kann aber sein, dass meine Müdigkeit es überlagert. Ich bin einfach kaputt nach der langen Anreise.« Er greift nach seinem Glas. »Ein Bier reicht mir heute.«

Diesmal nicke ich. Ich deute auf die vielen leeren Gläser am Nebentisch. »Noch zusätzlich ein schnurrendes Haustier im Gepäck auf der ersten Etappe. Nee. Das würde ich sowieso nicht hinkriegen.« Nun nickt er wieder.

Wir sind wie diese beiden kirchlichen Missionsopferstöcke links und rechts der weihnachtlichen Krippe meiner Kindheit, bei denen die Figur zum Dank für den Einwurf von zehn Pfennig mehrmals anerkennend mit dem Kopf genickt hat. Christian hat, außer Müdigkeit, noch einen guten Grund, statt in Bier- nur in Nicklaune zu sein. Sein Rucksack wurde nämlich von irgendeinem Gepäckband entführt. Er ist auf dem heutigen Flug auf der Strecke geblieben. Der morgige Tag meines derzeitigen Begleiters hat sich deshalb spontan geändert: Er wird, statt nach Roncesvalles, dem ersten Etappen ziel auf spanischer Seite, zu gehen, zurück nach Biarritz fahren.

In der Hoffnung, dass sein Gepäck mit dem nächsten Flug wieder freigelassen wird. Auch ohne Lösegeldzahlung. 

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